Europa bekommt mehr Einwohner. Das liegt an einer großen Menge von Menschen, die sich aus der Not heraus auf den Weg machen, um in der Ferne eine Perspektive für sich und ihre Familien zu finden. Die Not besteht darin, dass es Länder gibt, in denen Krieg und Armut herrschen. Derzeit mag dies insbesondere auf Menschen aus Syrien zutreffen, deren Land seit dem Jahr 2011 einem Krieg ausgesetzt ist, der vielen Menschen die Grundlage zum Überleben nahm. Insbesondere um die Belange dieser Menschen soll es in diesem Beitrag gehen.
Die meisten von ihnen haben in der Heimat alles verloren, was ihnen Auskommen und Halt gab. Häuser und Wohnungen wurden zerstört, das soziale Umfeld hat sich aufgelöst, weil bereits viele Menschen in die umliegenden Staaten wie nach Jordanien, in den Libanon oder die Türkei geflohen sind, die Preise für Lebensmittel sind ins Unerschwingliche gestiegen und die Sicherheitslage verschärft sich durch islamistische Milizen und eine völlige Abwesenheit staatlicher Sicherheits-strukturen. Jobs gibt es nicht, die Gesundheits-versorgung und der Bildungssektor liegen darnieder.
Ganze Landschaften in Syrien, Irak und Afghanistan sind dadurch für Viele geradezu lebensfeindlich geworden; vor allem seit der Islamische Staat seine schwarze Fahne wehen lässt. Die neuen (Schreckens-)Herrscher beuten das Land und die Menschen mit brutalsten Mitteln aus. Sie ermorden und versklaven Menschen. Sie bringen die Bevölkerung und mit ihr die ganze Menschheit dauerhaft um ihr zivilisatorisches Erbe, indem sie die antiken Baudenkmäler gewissenlos zerstören.
Darum fliehen die Menschen. Darum durchqueren sie die Türkei, leben dort auf der Straße und sind aufs Betteln angewiesen. Darum setzen sie sich kaltblütigen Schleppern aus, die ihnen ihr letztes Geld abknüpfen. Darum steigen sie in leidlich seetüchtige, völlig überfüllte Boote, auf denen sie ihr Leben riskieren und fahren über das Mittelmeer. Darum schlagen sie sich zu Fuß durch die Balkanstaaten und überqueren grüne Grenzen im Schutz der Dunkelheit, damit die Polizei sie nicht festsetzt.
Darum ersticken sie in Frachtcontainern, ertrinken im Meer, werden abgezockt, ausgeraubt, ermordet und vergewaltigt. Die Situation derjenigen, die es in die Europäische Union geschafft haben, ist jedoch nicht rosig. Ob auf der griechischen Insel Kos, an italienischen Bahnhöfen, in Ungarn oder gar im bayerischen Deggendorf: die Zustände, unter denen die Menschen leben müssen, sind katastrophal. Das Landesamt für Gesundheit und Soziales in Berlin, wo überproportional viele Flüchtlinge ankommen, ist mit der Zahl derjenigen, die registriert und versorgt werden müssen überlastet. Die Menschen erhalten Gutscheine für Hostels in der Stadt, da die Aufnahmelager nicht reichen. Die Besitzer der Jugendunterkünfte nehmen die Menschen nicht auf, weil das Landesamt nicht das Personal hat, die Rechnungen schnell genug anzuweisen.
Das dunkle Deutschland
Die Bundesregierung veröffentlicht stetig steigende Zahlen der zu erwartenden Flüchtlinge in Deutschland. Das Innenministerium überprüft eine Kürzung der Leistungen für Flüchtlinge und die Bundeskanzlerin fordert die schnellere Bearbeitung von Asylanträgen, damit unberechtigt Eingereiste schneller als bisher abgeschoben werden könnten. In Bayern, Niedersachsen, Thüringen, Sachsen-Anhalt und vor allem in Sachsen gibt es Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte, im Netz kursiert ungebremster Hass bei Facebook und Co. seit Pegida im vergangenen Winter damit begonnen hat, das Klima gegenüber denen, die nicht deutschen Blutes sind, zu vergiften. Nachdem Vize-Kanzler Gabriel die Demonstranten vom rechten Rand als „Pack“ bezeichnet hatte, geht im Willy-Brandt-Haus eine Bombendrohung ein. Sogar die sonst über allem schwebende Bundeskanzlerin muss sich in Heidenau ausbuhen und als „Volksverräterin“ und „blöde Schlampe“ beschimpfen lassen.
Die Zivilgesellschaft ist fortschrittlicher als die Politik
Gleichzeitig gibt es aber auch Anlass zur Hoffnung. Viele Menschen stellen sich den alten und neuen rechten Parolen wirkungsvoll in den Weg. Ein Ringen darum, was Mehrheitsgesellschaft ist, hat Deutschland erfasst. Die rechten Hetzer und Scharfmacher sind bei Demonstrationen in der Regel in der Unterzahl.
Viele Menschen bieten praktische Hilfe an, indem sie Wohnraum zur Verfügung stellen, Altkleidersammlungen (ebenfalls über Facebook) organisieren, Willkommensfeste feiern und vieles mehr tun, um den Neuankömmlingen einen freudigen Empfang und einen würdevollen Start in Deutschland zu bereiten. Die Spendenbereitschaft steigt. Die Menschen helfen aus reiner Menschlichkeit. Der öffentliche Raum wirkt schon beinahe durchzogen vom Mantra des „Refugees Welcome“. Ob Fernsehshows, Talksendungen, Konzerte, Sommerfeste, Graffiti an den Häuserwänden oder im Internet, von überall schallt ein „Willkommen!“. Die xenophoben Volksverhetzer scheinen nur im „dunklen Deutschland“ (Bundespräsident Gauck) Oberwasser zu haben.
Auch die große Politik ergreift Partei für den Menschen in Not. Immerhin setzen sich mittlerweile der Vize-Kanzler, der Bundespräsident und (nach den wüsten Beschimpfungen in Sachsen) auch die Bundeskanzlerin auch für die Nöte der Geflohenen ein und fordern eine flexiblere Verwaltung, damit Flüchtlingsunterkünfte rascher als bisher in den Dienst gestellt werden können.
Eine Ausnahme innerhalb der demokratischen Partien bildet natürlich die CSU. Der bayerische Innenminister zeigt, von welchem Kaliber er ist, als er Roberto Blanco als „wunderbaren N*“ bezeichnet. Er eröffnet ein Express-Abschiebezentrum und fordert, den Flüchtlingen lieber Sachleistungen als Geld zu geben, damit der Anreiz, nach Deutschland zu kommen für diejenigen, deren Asylantrag keine Aussicht auf Erfolg habe, geringer sei. Er nennt die Zuwendungen eine „Zumutung für die deutschen Steuerzahler“. Die offensichtlich überfordernde Situation der Erstaufnahme-EU-Länder Griechenland und Italien hält er für „rücksichtsloses Verhalten“ und einen „Verstoß gegen das Schengen-Abkommen und die Dublin-Verordnung“.
Da bekommt man schon den Eindruck, dass für jemanden wie Herrmann die Welt eine bessere wäre, wenn die Flüchtlinge einfach im Mittelmeer ersaufen würden, damit bloß nur endlich wieder Ruhe einkehrt.
Europas Chancen durch Zuwanderung
Mein Eindruck ist aber, dass die Gesellschaft viel weiter ist als manche Politikerinnen und Politiker. Mit der erfolgreichen deutschen Fußballnationalmannschaft, die aus Spielern unterschiedlichster Hautfarben und mit verschiedensten kulturellen Hintergründen zusammengesetzt ist, wurde vielen Menschen in Deutschland klar, dass Vielfalt große Chancen in sich birgt. Und diese Erkenntnis gilt es umzusetzen auf andere Bereiche des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Es ist gut, wenn Strukturen so gestaltet werden können, dass den Flüchtlingen in basalen Dingen geholfen werden kann.
Die eigentliche Herausforderung ist aber neben der Grundausstattung zur Erfüllung menschlicher Bedürfnisse die der dauerhaften Integration. Dazu braucht es andere rechtliche Gegebenheiten. Ich befürworte zum Beispiel eine Arbeitserlaubnis sowie die Möglichkeit zur beruflichen Ausbildung für Asylsuchende. Diese Menschen bleiben oft dauerhaft in Deutschland und erhalten dennoch keine Perspektive. Sie müssen aber mehr bekommen als eine grundlegende Versorgung. Sie müssen zeigen können, was sie drauf haben. Kluge Köpfe sollten studieren dürfen, gesunde Frauen und Männer sollten arbeiten dürfen. Und wer hart arbeitet, soll auch in den Genuss von Wohlstand kommen können. Das hilft bei der Integration. Wer arbeitet, erarbeitet sich eben immer auch Respekt. Und Respekt ist eine Fortführung menschlicher Würde. Aber nicht nur die Flüchtlinge könnten davon profitieren, wenn Ihnen mehr Chancen eröffnet würden. Es wäre gleichsam eine Chance für die europäischen Gesellschaften, neue Einflüsse erleben zu dürfen, alternative Lösungsmöglichkeiten zu finden, durch Menschen, die einen anderen Blick auf die Dinge mitbringen.
Europas neue Einwohner könnten zudem die demografischen Probleme etwas lindern. Aber das können sie eben nur, wenn sie auch die Möglichkeit erhalten, sich an der Vermehrung des europäischen Wohlstands zu beteiligen.
Zugegeben, Braindrain und Arbeitsmigration werfen noch andere Fragen auf. Zum Beispiel die Frage danach, was denn aus den Ländern wird, aus denen junge und gesunde Menschen fliehen. Es bleiben arme, alte und kranke Menschen zurück, die nicht den gefährlichen Weg nach Europa nicht wagen können. Es bleiben Staaten zurück, die weiter zerfallen und in denen es zu wenige leistungsfähige Menschen gibt, die ihr Land wieder aufbauen können. Was wiederum weitere Migration nach sich zieht. Deshalb bin ich auch gegen ein gezieltes Werben um Migration aus Entwicklungsländern. Mir geht es um die Menschen, die von selbst nach Europa kommen und hier die Chance erhalten sollten, sich ein würdiges Leben aufzubauen.
Dennoch sollten wir viel stärker als bisher prüfen, welche Politik geeignet ist, die Situation in den Herkunftsländern zu verbessern. Die Außenpolitik westlicher Staaten insbesondere im nahen Osten ist dafür ungeeignet und von ökonomischen Interessen gesteuert. Irak, Afghanistan und Syrien oder der Umgang mit dem palästinensisch-israelischen Konflikt können nicht als beispielhaft gelten. Hier müssen dringend neue Ansätze erdacht werden. Das sind die Aufgaben der Außen- und Entwicklungspolitik.
Nils Wehmeyer ist Mitglied des Mauerpark Institute e.V. und arbeitet an der TU Berlin. Er organisierte dort internationale Austauschprogramme und betreute dort insbesondere Austauschstudierende aus dem arabischen Raum.